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TikTok räumt auf mit Vielfalt

TikTok, der Musical.ly-Nachfolger mit Firmensitz in China, erreicht auch in Europa immer mehr Reichweite. Aktuell sind allein in Deutschland rund 5,5 Menschen mindestens einmal im Monat auf TikTok aktiv. Das Format mit kurzen Videoclips zieht vor allem junge Nutzer_innen an. Was sie zu sehen kriegen, unterliegt aber offensichtlich einer vielfältigen Zensur: Kritische politische Äußerungen sind ebenso wenig erwünscht wie LGBTQ* und Behinderungen.

Würden diese beiden auch der Zensur zum Opfer fallen?

Die Mission von TikTok lautet nach eigener Aussage, „die Kreativität, das Wissen und wichtige Momente des Alltagslebens aufzunehmen und zu teilen. Die Plattform ist ein Zuhause für kreative Videos, die für authentische, inspirierende und lustige Erfahrungen sorgen.“ Doch dem Postulat der guten Laune fällt so einiges zum Opfer. Schon länger steht die chinesische Firma ByteDance, die hinter der App steht, unter Verdacht, unliebsame politische Inhalte wie z.B. die Proteste in Hong Kong, kurzerhand zu entfernen und dafür im Zweifel auch Accounts zu löschen. Doch die Plattform geht mit ihren Regeln für die Moderatorinnen noch wesentlich weiter.

Perfide: Schutz vor Mobbing wird vorgeschoben

Netzpolitik.org hat offengelegt, dass TikTok dafür eine perfide Strategie nutzt. Offiziell sollen Subjekte, die als hochgradig verwundbar für Cyber-Bullying eingestuft werden, geschützt werden. Zu diesen Subjekten gehören Menschen mit Behinderungen oder Übergewicht. TikTok geht mit der vermeintlichen Fürsorge sehr weit: Finden sich etwa Hinweise auf Autismus im Profil, können die Moderatorinnen einschreiten. Außerdem sichten sie die eingestellten Videos. Rechnerisch bleiben ihnen knapp 30 Sekunden, um zu entscheiden, was mit einem Video passieren soll.

Sollten sie die dargestellten Personen als besonders gefährdet einstufen, können sie die Sichtbarkeit des Clips drastisch einschränken. Er ist dann z.B. nur noch in dem Land zu sehen, in dem er gepostet wurde. Die Videos können auch aus dem For-You-Feed genommen werden. Beiträge werden so nicht gelöscht, aber dem Publikum praktisch entzogen. Die Perfidität dieses Eingreifens liegt darin, dass hier nicht diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die durch Hate Speech auffallen, sondern diejenigen, die Zielscheibe des Hasses sind.

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Schöne neue Welt?

Damit wird die TikTok-Welt zur schönen neuen Welt, in der Behinderung und andere Normabweichungen außen vor bleiben. Das betrifft auch Schwule, Lesben und Transgender. In vorauseilendem Gehorsam wurden z. B. in der Türkei, in der Homosexualität nicht illegal ist, aber politisch und gesellschaftlich stark unter Druck steht, entsprechende Inhalte zensiert. Schon zwei Männer oder zwei Frauen, die Händchen halten, landeten dort auf dem Index.

Inzwischen zeigt sich TikTok mit Werbekampagnen für Diversity und Inklusion zumindest offiziell von einer anderen Seite. So rief die Plattform ihre Nutzer*innen dazu auf, ein Signal zu senden für Inklusion, Diversität und Sicherheit und gegen Mobbing, Hassrede oder beleidigendes Verhalten. Es bleibt aber der Verdacht, dass es sich dabei in erster Linie um eine Image-Kampagne handelt, um auf dem westlichen Markt weiter wachsen zu können.

Vielfalt wird unsichtbar

Tatsächlich steht hier einiges auf dem Spiel: Der Einfluss von Social Media-Inhalten auf Weltbild und Selbstwahrnehmung von Jugendlichen kann kaum überschätzt werden. Soziale Netzwerke, die zunächst einmal ALLEN Zugang zu digitaler Präsenz ermöglichen, entwickeln sich durch die immense Bedeutung von Zustimmung und Anerkennung in Form von Followern und Likes zunehmend dahin, einen starken normativen Druck aufzubauen. Stars und Influencer zeigen nicht selten eine extrem polierte Oberfläche, die von vielen Fans als authentisch und erstrebenswert wahrgenommen wird.

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Die Moderationsregeln von TikTok scheinen da fast wie der nächste logische Schritt. Warum nicht gleich verbannen, was den Schönheitsnormen nicht entspricht und unter moralischem Druck steht? Damit wird genau solchen Menschen die Möglichkeit der Selbstdarstellung entzogen, die dringend darauf angewiesen sind, für ihre Sichtbarkeit zu sorgen, weil sie viel zu oft übersehen oder bewusst ausgeblendet werden.

Nachtrag Januar 2020

TikTok hat unlängst auf die Vorwürfe reagiert und seine Community-Richtlinien angepasst. Auf der Grundlage dieser Richtlinien sichten die Moderator*innen die Videos auf der Plattform. Ziel ist es, die Verhaltensvorgaben transparenter zu machen. Laut den Richtlinien ist es u.a. verboten selbstverletzendes Verhalten zu zeigen, gewalttätige und explizite Inhalte zu veröffentlichen und soll der Schutz Minderjähriger im Fokus stehen. Zu dem – auch hier wiedergegebenen – Vorwurf, TikTok schließe bestimmte Gruppen systematische aus, indem die Reichweite reduziert wird, findet sich in den Vorgaben allerdings nichts.

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geschrieben von: Meike Adam

beschäftigt sich seit mahr als 20 Jahren beruflich mit dem Themenkomplex Medien, als Wissenschaftlerin, Webschaffende und medienpädagogische Referentin. Durch zahlreiche Elternabende, Fortbildungen für Lehrer_innen und Unterrichtseinheiten mit SuS weiß sie, wo es brennt. Mit 3 Kindern ist sie zudem alltägliche medienpädagogische Praktikerin.

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