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TikTok im Krieg

Es herrscht Krieg in Europa, ein echter realer Krieg, in dem Menschen getötet und Städte zerstört werden. In unserer medialen Zweitwelt ist ebenfalls ein Krieg ausgebrochen – ein Krieg um die Wahrheit, die Deutung von Bildern und die Vorstellungen unserer Kinder. Ein wichtiger Kriegsschauplatz ist dabei TikTok.

Wenn der Krieg zum Spiel wird - Foto von Anna Shvets von Pexels

Die Welt von TikTok soll bunt und fröhlich sein. Die selbsterklärte Mission von TikTok ist es, „Menschen zu inspirieren und Freude zu bereiten“ die Community soll dabei durch ein „wertschätzendes Umfeld“ unterstützt werden – so ist es zumindest in der Community Guideline nachzulesen. Um das zu gewährleisten, werden laut TikTok Inhalte gelöscht und Accounts gesperrt. Davon betroffen sind u.a. die Darstellung von selbstverletzendem Verhalten, gewalttätige Inhalte oder Extremismus. Klingt ebenso gut wie friedfertig. Wie passt das aber mit allen aufrüttelnden Berichten und Nachrichten zusammen, die immer wieder TikTok unterstellen, ebensolche Inhalte bewusst zu fördern? Gar nicht!

Der Algorithmus von TikTok, der den Nutzer*innen die Inhalte serviert, funktioniert ähnlich wie der anderer sozialer Netzwerke. Er stützt sich auf Informationen wie etwa die Sehzeit von anderen Videos oder die bisherigen Interaktionen. Anders als bei vielen anderen Plattformen zählt die Reichweite eines Kanals wenig, sodass es immer wieder zu schnellen Erfolgen von Neulingen kommen kann. Der Algorithmus von TikTok ist besonders mächtig, weil die Videosammlung direkt losplärrt, wenn die App geöffnet wird. Eine gezielte Suche oder eine direkte Navigation in einen bestimmten Account werden so weitgehend unterbunden. Die personalisierte Videoshow wartet nicht und kennt auch keine Pause.

Die Welt wird zerlegt in maximal 3-minütige (bald 10-minütige) Sinneinheiten, die wie zufällig aneinandergereiht, vorbeiflanierende Nutzer*innen zum Verweilen bringen wollen. Leicht landen sie so in Rabbit Holes (Kaninchenbauten), in denen immer wieder gezeigt wird, was zum bisherigen Nutzungsverhalten passt. Wer sich besonders ausgiebig mit bestimmten Inhalten wie Challenges befasst, bekommt möglichst viel davon geboten. Das kann auch zu obskuren Mischungen führen, erschütternde Kriegsvideos folgen dann Tampons in Wasserflaschen oder irgendeinem Prank. Feingefühl ist nicht die Stärke von Algorithmen.

Gamification des Krieges

TikTok verändert die Darstellung von Krieg drastisch. Es gibt jede Menge Videos, die mit Musik unterlegt sind und Memes sprießen wie die Pilze aus dem Boden. Verstörend wirkt die Selbstinszenierung von Soldaten, die in kurzen Clips in voller Kampfmontur tanzen. Der Krieg als riesige Party, als Selbstdarstellung in Form von Dance-Moves und vor allem als Fortsetzung der Alltagsnormalität. Instrumente werden dabei kurzerhand durch Waffen ersetzt. Die Videos knüpfen damit nahtlos an Sehgewohnheiten und Inhalte an, die den TikTok-Nutzer*innen nur allzu vertraut sind und holen so den Krieg in den Kosmos der TikTok-Realität ein. In diesen Videos wird der Krieg als Ereignis konsumierbar.

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https://www.tiktok.com/@alexhook2303/video/7085361210828279046?is_from_webapp=1&sender_device=pc&web_id=7093448608704906758

Für viele gaming-affine Nutzer*innen reihen sich diese Videos auch bruchlos in die Seherfahrung der Darstellung von Kämpfer*innen etwa bei Fortnite ein – auch hier wird im Übrigen gerne getanzt. Realität und Spielästhetik gleichen sich aneinander an. Schon die Inszenierung von Kampf und Krieg in vielen Spielen transportiert durchaus fragwürdige Botschaften. Nicht umsonst versucht die Bundeswehr bei der Rekrutierung von Soldat*innen daran anzuschließen. Die Videos tanzender Soldaten, die bei TikTok kursieren und virale Erfolge feiern, gehen einen Schritt weiter, weil sie einen real existierenden Krieg mit den Mitteln der Gamification erfahrbar machen.

Informationskrieg auf TikTok

Gleichberechtigt – man ist fast geneigt zu sagen, gleichgültig – neben solchen Inhalten findet sich auch vermeintlich authentisches Video-Material über Angriffe, Raketeneinschläge, Menschen in Schutzkellern oder Leichen auf der Straße. TikTok wird überflutet von einer Mischung aus Propaganda, aus dem ursprünglichen Kontext gelösten Bildmaterial und echten Aufnahmen, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. Schon die reine Menge dieser Videos ist erschlagend. Wir stehen zudem vor dem Dilemma, dass TikTok zum einen eine der wichtigsten Quellen für authentisches Videomaterial ist, in dem Menschen aus der Ukraine den Kriege unverstellt der Öffentlichkeit zeigen können und zugleich ein Umschlagplatz für Fehl- und Desinformation.

Hinter den Bildern tobt ein veritabler Informationskrieg, der Versuch unterschiedlicher Kräfte, die Deutungshoheit über die Situation zu erlangen. Während einzelne Nutzer*innen mit ihrem Material versuchen, von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen zu werden und so nicht zuletzt auch ein Zeichen gegen ihre Auslöschung durch Putin zu setzen, läuft auf der anderen Seite eine gut geölte Propaganda-Maschinerie und eine weitreichende Zensur.

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von www.tiktok.com zu laden.

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Nach dem Verbot von Facebook und Instagram in Russland fokussieren sich die Nutzer*innen auf die verbliebenen Messenger und sozialen Netzwerke. TikTok spielt dabei eine wichtige Rolle, obwohl es nur noch eingeschränkt genutzt werden kann. So können von Russland aus keine Videos mehr hochgeladen werden.

Der Norwegische Rundfunk hat in einer detaillierten Studie untersucht, wie sehr sich die Empfehlungen von TikTok für einen russischen und einen ukrainischen Account unterscheiden. Worlds Apart: Ganz offensichtlich werden komplett getrennte Welten kreiert. Videos, die den Krieg in der Ukraine zeigen, sind für russische Nutzer*innen nicht auffindbar. Mehr noch, Schätzungen zufolge sind 95 Prozent der globalen Inhalte auf TikTok innerhalb kurzer Zeit für Russ*innen unzugänglich geworden.

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Die ukrainische Seite weiß sich der sozialen Medien und der Möglichkeiten des Internets gekonnt zu bedienen. So können sich ausländische Staatsangehörige über eine Website für den Beitritt zur internationalen Legion der Territorialverteidigung der Ukraine bewerben. Gewonnen werden diese nicht zuletzt durch die strategische digitale Kommunikation. Es sieht so aus, als könnte die Ukraine den Krieg in den sozialen Netzwerken gewinnen. Hilfe sucht der ukrainische Präsident auch bei russische TikToker*innen. Wolodymyr Selenskyi hat sie in einer Rede dazu aufgefordert, dazu beizutragen, den Krieg zu beenden.

Kein Doom-Scrolling und begleiten

Was können wir also tun, um unsere Kinder den Strategien aller Beteiligten, die Sichtweise auf diesen Krieg nach ihren Vorstellungen zu formen, nicht hilflos auszuliefern? Wenn schon Erwachsene überfordert sind, authentische von inszenierten Inhalten, Hilferufe von Propaganda zu unterscheiden, wenn Kriegsspiel und Kriegswirklichkeit sich zum Verwechseln ähnlich sehen, dann ist es besonders wichtig, Kinder und Jugendliche mit diesen Inhalten nicht allein zu lassen.

Für jüngeren Nutzer*innen empfiehlt sich der begleitete Modus von TikTok. Dafür ist es notwendig, dass die App nicht nur auf dem Handy des Kindes, sondern auch auf einem Eltern-Gerät installiert ist. Nach dem Scannen eines QR Codes auf dem Gerät des Kindes und dem Verbinden der Geräte kann der begleitete Modus in den „Digital Wellbeing“-Einstellungen unter „Privatsphäre und Einstellungen“ aktiviert werden. Sie haben damit die Möglichkeit, die Bildschirmzeit zu beschränken, unangemessene Inhalte auszufiltern und die Suche zu unterbinden. Eine genaue Anleitung finden Sie auf medien-kindersicher.de

Ganz allgemein gilt, dass es sich in sozialen Netzwerken leicht in Untergangsfantasien einrichten lässt: Beim Doom-Scrolling folgt ein niederschmetterndes Video dem anderen. Corona, Ukraine-Krieg, Trennungen usw. in einer schier endlosen Abfolge. Unzweifelhaft gibt es im Moment reichlich Gründe die Geschehnisse in der Welt angstvoll zu betrachten und genauso unzweifelhaft ist es wichtig, informiert zu bleiben und nicht einfach alles auszublenden. Aber wer im Doom-Scrolling versackt, erhält nicht in erster Linie notwendige Informationen, sondern wird mit deprimierenden Inhalten geradezu überhäuft. Gerade für Kinder und Jugendliche ist der Weg daraus nicht einfach. Helfen kann dabei ein Zeitlimit, die sorgfältige Auswahl der Kanäle und vor allem wache erwachsene Ansprechpersonen. Weniger hilfreich ist es, sich einfach treiben zu lassen und den Vorschlägen eines Algorithmus zu folgen.

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geschrieben von: Meike Adam

beschäftigt sich seit mahr als 20 Jahren beruflich mit dem Themenkomplex Medien, als Wissenschaftlerin, Webschaffende und medienpädagogische Referentin. Durch zahlreiche Elternabende, Fortbildungen für Lehrer_innen und Unterrichtseinheiten mit SuS weiß sie, wo es brennt. Mit 3 Kindern ist sie zudem alltägliche medienpädagogische Praktikerin.

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