Landgericht Berlin:“Stück Scheiße“ ist hinnehmbar
Hate Speech ist ein großes gesellschaftliches Thema. Politik, besorgte Eltern und eine aufmerksame Öffentlichkeit verfolgen sehr kritisch die Zunahme von Hass-Postings in den sozialen Medien und gehen dagegen mit Kampagnen und Initiativen an. Nun gibt das Landgericht Berlin in seinem Beschluss jedoch eine Art Freifahrschein für übelste Rundumschläge, auch unter der Gürtellinie. Was soll das denn?
Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung vor dem Berliner Landgericht liegt bereits 33 Jahre zurück. Renate Künast redet vor dem Berliner Abgeordnetenhaus, als sie durch einen Zwischenruf unterbrochen wird: Wie sie denn zum Beschluss der nordrhein-westfälischen Grünen stehe, Geschlechtsverkehr mit Kindern zu entkriminalisieren. Und nun geschieht das, was zum aktuellen Rechtsstreit beiträgt, an dessen (vorläufigem!) Ende der Beschluss des Landgerichts Berlin steht: Künast ruft offenbar dazwischen: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist.“
Künast, so ihr Anwalt, habe damit die falsche Wiedergabe des NRW-Beschlusses ergänzen wollen. Pädophilie beziehungsweise Geschlechtsverkehr mit Kindern habe Renate Künast „zu keinem Zeitpunkt befürwortet, gutgeheißen oder akzeptiert“, zitiert die Berliner Morgenpost den Rechtsvertreter.
Die Zeitung „Die Welt“ thematisiert dies 2015 nochmals in einem Artikel. In der Folge reagiert der rechte Netzaktivist Sven Liebich in einem Post, weitere Kommentare folgen. Bei Facebook heißt es „Drecksfotze“ und „Knatter sie doch mal so richtig durch, bis sie wieder normal wird.“ Auch Ausdrücke wie „Stück Scheiße“, „Schlampe“ und „Geisteskranke“ tauchen in den Posts auf.
Niemand, auch keine Politiker*in, sollte sich diesen Schimpfwörtern aussetzen müssen. Meinungsfreiheit ist nicht grenzenlos: Beleidigungen sind strafbar! Offenbar sieht das Landgericht Berlin das anders.
Denn es entschied am 9. September in seinem Beschluss: „Der Kommentar ,Drecksfotze‘ bewegt sich haarscharf an der Grenze des von der Antragsstellerin (Renate Künast) noch Hinnehmbaren“ (Az: 27 AR 17/19). Wie bitte?
Und es geht weiter: Auch Äußerungen wie „Knatter sie doch mal so richtig durch, bis sie wieder normal wird“ seien „mit dem Stilmittel der Polemik geäußerte Kritik“. Die Frauen dieser Welt werden es dem Landgericht Berlin ewig danken, wenn sie hemmungslos beschimpft und gedemütigt werden, ach nein: kritisiert.
Auch die weiteren Ausführungen des Gerichts lassen ungläubig staunen. So sei die Bemerkung, dass Künast „vielleicht als Kind ein wenig zu viel gef…“ wurde, „überspitzt, aber nicht unzulässig“. Diese hasserfüllten Äußerungen dürften darüber hinaus auch sexuell aufgeladen sein, so das Gericht, sie seien das Spiegelbild der Sexualisiertheit des Themas. Das erinnert an die Ansicht, eine Frau, die einen Minirock trage, sei eben selbst schuld, wenn sie vergewaltigt würde.
Satire oder Skandal?
Und schließlich produziert das Gericht weiteren Müll. Die Forderung, Renate Künast als „Sondermüll“ zu entsorgen, habe „Sachbezug“. Warum? Weil sie bei den Grünen ist und sich für die Umwelt einsetzt?
Das ist reine Satire, wenn es nicht so traurig wäre, – doch nein, es ist ein ausgewachsener Justizskandal! Beugt sich vielleicht sogar die Justiz denjenigen in unserer Gesellschaft, die lautstark darüber lamentieren, dass man in Deutschland seine Meinung nicht frei äußern könne?
Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber verbale Gewalt dieser Art fällt eben nicht mehr darunter. Wozu die Diskussion um das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, wozu Kampagnen des Europa-Rates gegen Hate Speech, wozu der Einsatz zahlreicher Initiativen, wenn das Gericht es in seinem Beschluss zulässt, dass auf Facebook Menschen munter herabgewürdigt und beschimpft sowie übelste sexistische Übergriffe gepostet werden können?
Wir – und alle, die wir kennen, wollen eine andere Gesellschaft, eine, in der es möglich ist, zuzuhören, zu klären, sich auseinanderzusetzen und gern auch hitzig zu debattieren. Aber Beleidigung ist kein Stilmittel und Hass ist keine Meinung, weder on- noch offline. Wir versuchen, uns für einen fairen Umgang miteinander – nicht nur im Netz – zu engagieren. Das Urteil ist – mit Verlaub – ein Arschtritt.
siehe auch Berliner Morgenpost, 22.09.2019
#urteil #sozialemedien #hatespeech #gesellschaft